Schwellen, Übergänge, Passagen | Claudia Marion Stemberger, 2010

zu Judith Fegerls partizipativer Installation revers, Passagegalerie Künstlerhaus Wien, 2010

„Den Körper aufzulösen, hat nie bedeutet, sich umzubringen, sondern den Körper für Konnexionen zu öffnen, die ein ganzes Gefüge voraussetzen, Kreisläufe, Konjunktionen, Abstufungen und Schwellen, Übergänge und Intensitätsverteilungen, Territorien und Deterritorialisierungen, die wie von einem Landvermesser vermessen werden. Letzten Endes ist es nicht schwieriger, den Organismus zu demontieren als die anderen Schichten, Siginifikanz oder Subjektivierung.” [...]

„Nur dort erweist sich der oK [organische Körper, Anm.] als das, was er ist, nämlich als Konnexion von Begehren, Konnexion von Strömen und als Intensitätskontinuum. Man hat sich seine eigene kleine Maschine gebastelt und ist bereit, sie je nach den Umständen an andere kollektive Maschinen anzuschließen.”

Judith Fegerls Skulpturen, Installationen und Performances ebenso wie ihre Zeichnungen konstituieren sich als mimetischer Prozess. Ihre vielschichtigen künstlerischen Arbeiten oszillieren zwischen organisch-anthropologischen und anorganisch-technischen Facetten, an der Grenze von Lebendigem und Leblosem. Für die Passagegalerie des Künstlerhaus Wien inszeniert die Künstlerin für revers ein hybrides, performatives Setting aus Mensch und Maschine.

Ihre performative Blutspendeaktion greift zunächst nicht nur die mit Blut verbundenen Mythen vom Sitz der Lebenskraft auf, sondern auch Künstlermythen wie jene von Joseph Beuys. Doch Beuys’ Stilisierung des Künstlers als Sozialreformer und Energiespender affirmierte stereotype Bilder des heroischen – männlichen – Künstlersubjektes und bekräftigte hierarchische, konservative Gesellschaftskonventionen. Den Beuysschen Hauptstromstempel und seine Zeichen dreht Judith Fegerl daher sprichwörtlich um: Sie spiegelt und invertiert die Schrift, enthebt die Doppelkeile ihrer unidirektionalen Bewegungsrichtung und fügt einen zweiten, gegenläufigen Pfeil hinzu, der Fegerls langjährige Auseinandersetzung mit der Endlosschleife zitiert. Gleichsam als (Kapillar-) Geflecht verdichten sich die zarten Metallfäden rhizomatisch zu einem Hauptstrom, dessen Ende – oder Anfang – in eine Infusionsnadel mündet.

Während der Beuyssche Gedanke des „Energieplans” letztlich einen Monolog markierte, wagt Judith Fegerl in der Passagegalerie die Installation eines dialogischen Kreislaufs. Die Künstlerin rekurriert die Beuyssche Idee von der „Sozialen Plastik”, belässt diese jedoch nicht bei einer mythischen Selbstilisierung, sondern erprobt die Metapher des plastischen Prinzips jenseits der Utopie. In revers geraten die Rezipientinnen zu leiblichen Mitwirkenden, zur Lebens- und Energiequelle, denn die Künstlerin nimmt die Enthierarchisierung der dichotomischen Subjekt-Objekt-Relation wörtlich und installiert eine reale Blutspendeaktion für das Rote Kreuz.

Fegerls performative Installation ermöglicht den BesucherInnen, die imaginierten Grenzen zwischen Kunst und Leben zu hinterfragen und sich selbst als autopoietischer Teil der ephemeren Skulptur zu konstituieren. Die Passagegalerie als Blutspendezentrale markiert dabei einen Hub, einen Knotenpunkt als Sammelpunkt: Verschlungene Stromkabel und Gummischläuche bilden die Schnittstelle zu den Blut spendenden Menschen und formieren einen Kreislauf, bei dem die Blutspendemaschinen einen Hub zwischen Spender(blut-)kreislauf und Empfängerkreislauf bilden.

„Die liminale Situation ergibt sich nicht nur aus der Erfahrung der Unverfügbarkeit sowie der Erfahrung permanenter, wechselseitiger Übergänge zwischen Subjekt- und Objektposition. Vielmehr ist auch jede Wendung, die sie nimmt, als ein Übergang und damit als eine Schwellensituation zu begreifen. Jeder Übergang, jeder Weg über eine „Schwelle” schafft einen Zustand der Instabilität, aus dem Unvorhergesehenes entstehen kann, der das Risiko des Scheiterns birgt, aber ebenso die Chance einer geglückten Transformation.”

Fegerls installatives Setting formiert sich gleichsam als liminales Ereignis und fordert auch die Relation von Material- und Zeichenstatus, die Dichotomie von Ästhetik und Ethik, das Verhältnis von Signifikant und Signifikat mehrfach heraus. Liminale Erfahrungen ergeben sich infolge der Emergenz und der Autopoiesis, insbesonders aber infolge der Destabilisierung von Gegensätzen.

Der Ort der Passagegalerie im U-Bahn-Zwischengeschoss potenziert den Raum als Ort eines Ereignisses auf der Schwelle. Nur eine dünne Glasscheibe trennt den Kunstraum der Passagegalerie vom öffentlichen (Außen-)Raum am Karlsplatz. Auch der (kontingente) performative (Innen-)Raum sieht per se keine räumliche Trennung vor zwischen AkteurInnen und BesucherInnen, erst Fegerls performative Installation konstituiert den Raum. Nicht nur die Haptik der verwendeten Vorhänge potenziert den liminalen Charakter der Situation, sondern vor allem auch Fegerls Paravent, der im Takt einer menschlichen Herzfrequenz pulsiert, markiert noch Wochen nach der Performanceaktion den Einbruch des (Leiblich-)Realen als anthropomorphisierte Skulptur.

Der Ereignischarakter der Blutspendeaktion gestaltet die ästhetische ebenso wie die leibliche Erfahrung als Schwellenerfahrung. Die BesucherInnen geraten zwischen die destabilisierten Gegensätze von Öffentlichkeit und Intimität, von Distanz und Nähe. Indem die BesucherInnen Teil der Installation werden, entsteht ein Rollenwechsel, dessen intendierte Uneindeutigkeit ein Potential für Positionswechsel zwischen Entmächtigung und Ermächtigung generiert. Dieses Spektrum der Ko-Autorschaft lässt die Besucherinnen von Fegerls Blutspendeaktion zwischen Partizipation und Verweigerung schwanken. Zwar konfrontiert ihre performative Situation in der Passagegalerie die TeilnehmerInnen mit Unvorhersehbarkeit, der Verlauf der Situation ebenso wie das Blutspendens ist nicht genau zu fixieren, jedoch wird keine Blutspende ohne Zustimmung vorgenommen. Auch für die Künstlerin entwirft sich ihr prozessuales Werk nicht nur als Ausdruck ihrer eigenen künstlerischen Intention.

Einerseits können die BesucherInnen als TeilnehmerInnen an der Blutspendeaktion aktive Rollen übernehmen. Andererseits bedeutet Blutspenden aber auch eine paradoxe Passivität, eine sprichwörtliche Grenzsituation für das solchermaßen stillgelegte Publikum. Denn bereits ohne performatives Setting beschreiben Blutspender ein Gefühl von Verdinglichung und den Verlust autonomer Selbstbestimmung. Sie erleben körperliche Veränderungen, die trauma-analog empfunden werden. Die Dialektik vom Leibphänomenologie und Körpersemiotik zeigt sich in revers in der ausgestellten wie erfahrbaren Verletzlichkeit, sind hier doch die BlutspenderInnen den Blicken der GaleriebesucherInnen schonungslos ausgesetzt.

Anmerkungen
Gilles Deleuze / Félix Guattari: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 219.
Ebd., S. 221.
Vgl. Christina von Braun / Christoph Wulf (Hg.): Mythen des Blutes, Frankfurt am Main 2007.
Barbara Lange: Joseph Beuys. Richtkräfte einer neuen Gesellschaft, Berlin 1999, S. 238f. Vgl. auch S. 162, 241-243: Beuys setzte sich in die kunsthistorisch geprägte Genealogie, die dem schöpfergleichen, autonomen (männlichen!) Künstlersubjekt ein Potential zu gesellschaftlichen Veränderungen zuschreibt. Joseph Beuys als Gesellschaftsrefomer zu bezeichnen, erweist sich jedoch im historischen Rückblick als Projektion, anstelle die Beuysschen Vorträge als (soziale) Stilisierung seines vermeintlichen Sonderstatus zu verstehen, die letzten Endes nur überholte Ideale der Moderne repetierten.
Für Erika Fische-Lichte beinhaltet die leibliche Kopräsenz bereits das politische Element. Kunst, sozialer Lebenswelt und Politik lassen sich in ihrer Ästhetik des Performativen nicht trennen.
Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004, S. 68.
Fischer-Lichte 2004, S. 310.
Vgl. Gernot Schiefer: Motive des Blutspendens: Eine tiefenpsychologische Untersuchung mit Gestaltungsoptionen für das Marketing von Nonprofit-Organisationen des Blutspendewesens, Wiesbaden 2006, S. 3, 292.